Samstag, 30. Juli 2011

Die Schriftstellerin


Sie sass vor dem Blatt Papier, das unbeschriftet vor ihr lag. Es war viel zu weiss. Auf so einem weissen Blatt kann keiner schreiben. Also beschloss sie sich neues Papier zu kaufen. Im Laden war sie unentschlossen. Wäre es vielleicht nicht besser in ein Notizbuch zu schreiben? Besitzt denn nicht jeder richtiger Schriftsteller ein Notizbuch? Was wusste sie schon über Schriftsteller? Nach langem hin und her wusste sie, dass sie sich so ein schwarzes Molesikne Notizbuch leisten musste. Doch zuhause sass sie wieder reglos vor dem Papier. Jetzt war das Papier nicht mehr so weiss, dafür liniert und mit anderen zusammengebunden. Sie hatte schon viele Bücher übers Schreiben gelesen, doch Schreiben konnte sie nicht. Warum sie schreiben wollte? Einfach so. Man hatte ihr gesagt, dass sie gut mit Worten umgehen könne. Wie viele Jahre war das her?

Nach einer Tasse Kaffee dachte sie an ihre Lieblingsbücher und Geschichten. Was macht diese so einzigartig? Bei den einen war es die Sprache, der Inhalt war nicht wichtig. Diese Bücher las sie indem sie jedes einzelne Wort aufsaugte, ohne je einen Gedanken über den Inhalt zu verlieren. Die anderen Bücher las sie wegen der Geschichte. Meistens waren es Liebesgeschichten. Schöne Geschichten, in denen sie Stunden, Tage oder Monate leben konnte. Die Geschichte eines Freundespaares, das sich während zwanzig Jahren so stark entwickelt, dass sich alles ändert, war ihr Lieblingsbuch. Sie las es zum fünften Mal und fieberte immer noch gleich mit wie beim ersten Mal.

Eine andere Geschichte, die sie nie vergessen hatte, begleitet sie seit Jahren in ihrem Alltag. Es ist die Geschichte von Sonja, einem Mann in Berlin und seiner Freundin in Hamburg. Der Charakter dieser Sonja ist so einzigartig, dass sie (unsere Schriftstellerin) sich auf den Strassen immer wieder nach ihr umsieht. Natürlich ist Sonja nicht echt. Doch Sonja ist so gut beschrieben, dass sie noch besser als echt ist. Das muss es sein, was ihre Lieblingsgeschichten ausmachte. DIE PERSONEN. Das war auch die Überschrift auf dem ersten linierten Moleskine Blatt. Namen. Sollte sie einfach einen Namen nehmen? Einen, der ihr was bedeutete? Sie überlegte sich, ob sie nicht einfach ihren eigenen Namen nehmen sollte. Doch beschloss dann, dass das zu persönlich sei. Also entschied sie sich für LISA. Nein, den Namen fand sie zu gewöhnlich. Und ihr wurde klar, dass die kein grosser Fan von den Buchstaben L und A war. Kein Name gefiel ihr. Also blieb die Protagonistin ohne Name, anonym. Unter DIE PERSONEN stand nun 1. DIE PROTAGONISTIN. Sie beschloss vorerst keine weiteren Personen dazu zu erfinden.

Auf einer nächsten Seite schrieb sie DIE HANDLUNG. Die Seite blieb leer. Auf den nächsten Seiten kamen Überschriften wie THE UNEXPECTED TWIST, DIE PERSPEKTIVE, ZEIT&ORT, DER TON. Alle diese Seiten blieben leer. Die Schriftstellerin fühlte sich plötzlich gut. Sie hatte den ersten Schritt für ihren Roman, Kurzgeschichte oder Novelle getan. Nun hatte sie sich eine Pause verdient. Währenddem sie an einen Kräutertee (einen weiteren Kaffee hätte sie nur nervös gemacht) nippte, blätterte sie durch ihr Notizbuch.  Einfach grandios. Endlich mal eine Aufgabe. Ja, sie wusste, dass das ihr Umbruch sein würde. Endlich könnte sie ihr Leben ändern. Endlich würde sie aus diesem scheusslichen kleinen Zimmerchen ausziehen.

Sie dachte an ihr zukünfitges Leben. Sie konnte sehen, wie sich alles ändern würde. Sie würde Menschen kennen lernen, die nicht zu ihrer Familie gehörten. Vielleicht sogar einen Mann? Sie wollte schon lange einen Freund haben. Und was immer sie mit ihm erleben würde, könnte sie in ihrem nächsten Buch verarbeiten. Sie würde die nächste grandiose Liebesgeschichte schreiben. Und selber würde sie nicht mehr Em und Dex oder Sonja nachträumen, sondern ihren eigenen Protagonisten.

Den Rest des Tages verbrachte sie damit an ihr Buch zu denken. Sie war stolz auf sich. Bevor sie ins Bett ging schrieb sie ihre Ziele für den nächsten Tag auf: 1. ERSTES KAPITEL SCHREIBEN, 2. ÜBER ZEIT UND ORT RECHERCHIEREN. Das ist wohl genug für einen Tag. Sie sank zufrieden in ihr Bett mit den rosaroten Pünktchen auf dem Kopfkissen und war zufrieden. Kurz vor dem Einschlafen hatte sie einen genialen Gedanken. Sie wollte Pilotin werden. Sie war keine Schriftstellerin. Nein, sie musste Pilotin werden, das war ihre Berufung. Mit einem Lächeln auf dem Mund schlief die Pilotin/Schriftstellerin ein. 

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